Erinnern Sie sich an das Agile Prinzip #1, das ich letzte Woche vorgestellt hatte? Hier ging es darum, Nutzer:innen von Produkten – oder eben Betroffene von Veränderungen in der Organisationsentwicklung – zufriedenzustellen, indem möglichst schnell funktionierende (Teil-)Lösungen entwickelt werden. Customer Centricity bedeutet aber auch, dass Unternehmen damit umzugehen lernen, dass sich Anforderungen, Rahmenbedingungen oder Wünsche ändern, bei Transformationen ebenso wie in der Software- oder Produktentwicklung. Und damit sind wir bereits beim Agilen Prinzip #2.

Agiles Prinzip #2 in der Produktentwicklung

Was bedeutet das im Originalkontext?

Das Umfeld, in dem sich Unternehmen bewegen, ist dynamischer denn je: Innovative Technologien, gesellschaftliche Trends oder neue Services von Wettbewerbern verändern die Bedürfnisse und Prioritäten von Nutzer:innen. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass sich im Projektverlauf die Anforderungen an das Produkt ändern.

Auch wenn Änderungen auf den ersten Blick stören und vielleicht sogar teuer sind: Innerhalb fluider Rahmenbedingungen ein Produkt streng nach Plan zu entwickeln, ist riskant. Denn das “perfekte” Produkt orientiert sich nicht an einem Plan, sondern an den jeweils aktuellen Kundenbedürfnissen.

Agile Teams akzeptieren diese Tatsache nicht nur, sondern sie sind offen für Veränderungen. Sie verstehen, dass flexibles Reagieren eine Chance auf ein besseres Endergebnis und zufriedenere Kund:innen ist – und damit ein Wettbewerbsvorteil.

Beispiel

Ein Softwareteam arbeitet an einer mobilen App für ein Restaurant-Bestellsystem. Der Go-live-Termin für die App steht bereits fest und die Werbekampagne läuft, doch in der Beta-Testphase kritisieren zahlreiche Tester:innen das Checkout-Erlebnis im Bestellprozess und wünschen sich eine intuitivere Nutzerführung.

Statt sich zu ärgern oder das Feedback zu ignorieren, setzt sich das Team mit Vertrieb und Marketing zusammen und wägt die weitere Vorgehensweise ab: Ein pünktlicher Go-live mit einer nachgezogenen Softwareanpassung im laufenden Betrieb? Oder ein besseres Nutzererlebnis von Anfang an, zum Preis eines verzögerten Go-to-Market? Die Frage ist nicht ob, sondern lediglich wann das Feedback in die Software einfließt, um die App wettbewerbsfähig zu machen.

Wie lässt sich dieses Prinzip auf die Organisationsentwicklung übertragen?

Ein agiles Mindset, das Veränderungen “willkommen heißt”, hilft auch auf Unternehmensebene, Herausforderungen besser zu meistern. Und Veränderungen gibt es aktuell genug: Geopolitische Krisen, die Lieferketten stören. Ein gesellschaftlicher und ökologischer Wandel, der die Prioritäten zwischen Nachhaltigkeit und Gewinnmaximierung verschiebt. Eine junge Generation, die andere Ansprüche an ihr Arbeitsleben und die Work-Life-Balance stellt. Der Fachkräftemangel, der einen neuen Umgang mit der Ressource Mensch erfordert.

Und genau hier macht das Agile Prinzip #2 den Unterschied: zwischen Unternehmen, die mit Veränderungen hadern, und Unternehmen, die den Wandel als Konstante des wirtschaftlichen Handelns akzeptieren und im Idealfall für eine Weiterentwicklung nutzen. Der Erfolg gehört den Macher:innen, die nicht auf Bürokratieabbau oder Subventionen warten, sondern ihre Energie auf die Möglichkeiten richten und aus den aktuellen Rahmenbedingungen das Beste herausholen, mit Mut, frischen Ideen und Fehlertoleranz.

Was könnte “Änderungen willkommen heißen” in der Organisationsentwicklung bedeuten? Vier Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen.

Arbeitsmodelle: Die Corona-Krise war ein Katalysator für das Agile Prinzip #2. Die disruptiven Änderungen der Rahmenbedingungen der Arbeitswelt wurden pragmatisch genutzt, um Organisationen auf ein neues digitales Level zu heben. Führungskräfte, die sich darauf eingelassen haben, profitieren heute von erprobten, modernen Arbeitsmodellen (oder zumindest von einem Erfahrungsschatz, welche New-Work-Bausteine sich für das eigene Unternehmen eignen und welche nicht). Und mit wachsender zeitlicher Distanz zur Pandemie greift das Agile Prinzip #2 erneut: Viele Organisationen befinden sich gerade in einer Phase der Nachjustierung, wie sie weiter mit dem Homeoffice umgehen wollen. Die gestiegenen Anforderungen und Wünsche der Mitarbeitenden hinsichtlich flexibler Arbeitsorte werden mit unternehmerischen Zielen wie Produktivität, Mitarbeitergesundheit, Teamspirit und Employer Branding abgeglichen und bei Bedarf mittels Kurskorrektur in Einklang gebracht.

Fachkräftemangel: Ein echter Use Case aus der Praxis ist die geplante Übernahme des Continental-Produktionsstandorts Gifhorn durch Stiebel Eltron. Die Idee: Das funktionierende Werk inklusive der qualifizierten Facharbeiter:innen soll nicht geschlossen und abgewickelt werden, sondern wird von einem anderen Unternehmen weiter betrieben, das dringend erfahrene Fachkräfte und Produktionsflächen sucht. Im Weiterbildungsinstitut für Technologie und Transformation macht Continental die Mitarbeitenden fit für den Wechsel der Fertigung von Bremssystemen auf Wärmepumpen. Ein schönes Beispiel für Veränderungskompetenz und Open-Minded-Lösungen selbst über Organisationsgrenzen hinweg!

Lieferketten: Die Fahrradindustrie war in den letzten Jahren über lange Phasen von Logistikschwierigkeiten betroffen, zuerst in der Coronakrise, dann durch die Suezkanal-Havarie. Viele Komponenten und Ersatzteile waren über Monate nicht lieferbar, so dass Fahrradwerkstätten keine Reparaturen mehr ausführen konnten. Einige Werkstätten begannen daraufhin, Kompletträder aus ihrem Lager zu zerlegen und bauten Tauschbörsen von ausgeschlachteten Gebrauchträdern auf, um für ihre Kunden weiterhin Reparaturservices anbieten zu können.

Start-ups & neue Geschäftsmodelle: Es hat System, dass viele erfolgreiche Unternehmensgründungen in Krisenzeiten erfolgen. Airbnb beispielsweise wurde in der Finanzkrise gegründet und entwickelte sich dem schwierigen Umfeld zum Trotz zum Branchenleader – oder vielleicht gerade weil das Trägheitsmoment erfolgreicher wirtschaftlicher Phasen überwunden wurde: Vor der Finanzkrise hatten Privatpersonen Vorbehalte, die eigene Wohnung an Fremde zu vermieten, doch angesichts drastischer finanzieller Engpässe wurden arbeitslos gewordene New Yorker Banker mit der Vermietung ihrer Luxus-Apartments zu den ersten Gastgebern des neuen Portals Airbnb. Der boomende Liefer-Supermarkt Gorillas wurde in der Coronakrise gegründet und Nescafé ist ein Produkt der Weltwirtschaftskrise, als Brasilien 1930 auf Tonnen überschüssiger Kaffeebohnen festsaß und die Schweizer Firma Nestlé eine Idee entwickelte, Kaffeebohnen haltbar zu machen – den ersten löslichen Bohnenkaffee.

Typische Hürden

Das Agile Prinzip #2 darf nicht als Einladung zur Willkürlichkeit oder als Entschuldigung für mangelnde Kommunikation verstanden werden. Und ganz wichtig: Den Wandel willkommen zu heißen, bedeutet nicht, dass jede Anforderung und jeder Wunsch der Zielgruppe umgesetzt werden muss – es geht darum, die Anforderungen wahrzunehmen, als Impuls wertzuschätzen, sich damit auseinanderzusetzen und Entscheidungen zu treffen. Veränderungen werden nicht beliebig initiiert, sondern ihre Berechtigung hinterfragt – orientiert an allen Betroffenen einer Transformation, dazu zählen auch die strategischen und wirtschaftlichen Ziele des Managements. Ein wertschätzendes, reflektiertes und begründetes “Nein” – beispielsweise beim Wunsch der Belegschaft nach einer 4-Tage-Woche – ist deshalb durchaus eine agile Option! Die Herausforderung ist es, die richtige Balance zwischen Stabilität und Flexibilität zu finden: Eine zu große Änderungsdynamik kann zu Instabilität führen, während mangelnde Flexibilität Chancen ungenutzt lässt oder Risiken nicht rechtzeitig abfedert.

Das Agile Prinzip #2 braucht auch einen Wandel der Unternehmenskultur. Ermutigen Sie Mitarbeitende dazu, in Transformationsprojekten kritisch zu bleiben, sich mit Kolleg:innen auszustauschen und Verbesserungsvorschläge zu äußern. Fordern Sie umgekehrt bei Kursänderungen auch Verständnis ein, wenn Projekte nicht “nach Plan” laufen. Nicht jede Veränderung wird erfolgreich sein, nicht jede Transformation am ursprünglichen Ziel ankommen. Kommunizieren Sie die Gründe, machen Sie den Weg als Lernprozess transparent und machen Sie vor allem Erfolge sichtbar, die durch Veränderungen entstanden sind, um so die Akzeptanz für den Wandel zu erhöhen.

Teamprove-Prinzip #2 der agilen Organisationsentwicklung

In unserer Serie überträgt Maria Langner alle 12 Prinzipien des agilen Manifests auf die Organisationsentwicklung. Weiter geht es im nächsten Artikel…

… mit dem agilen Prinzip der “regelmäßigen Lieferung”: Wie erreichen Unternehmen das Ideal der lernenden Organisation, die in kurzen Zyklen echte Verbesserungen realisiert?

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Maria Langner versteht sich als Impulsgeberin für Teams, die sich weiterentwickeln möchten. Ihr Ziel: Werthaltige Ergebnisse mit der richtigen Balance zwischen agiler Flexibilität und sinnvoller Planung. Dafür bringt sie als Mediatorin und Motivatorin verschiedene Sichtweisen zusammen.

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