Nach dem Umgang mit Veränderungen in Teil 2 meiner Serie geht es im dritten Teil um Geschwindigkeit. Wie erreichen Unternehmen das Ideal der lernenden Organisation, die in kurzen Zyklen echte Verbesserungen realisiert? Wie gelingt es, die Ressourcen in schnelle Ergebnisse (Quick Wins) statt in die Planung und Dokumentation schwerfälliger Initiativen auf dem Papier zu investieren? Wie kommt Organisationsentwicklung in einen energievollen “Flow”?

Agiles Prinzip #3 in der Produktentwicklung

Moment – hatten wir das mit der Regelmäßigkeit nicht schon beim 1. Agilen Prinzip? Die beiden Prinzipien klingen ähnlich, aber achten Sie auf die Kernaussage: Während es beim 1. Agilen Prinzip darum geht, Kund:innen durch regelmäßige Zwischenergebnisse zufriedenzustellen, betont das 3. Agile Prinzip die kurzen Intervalle zwischen diesen (Zwischen)Ergebnissen. Es geht um die Taktung.

Was bedeutet das im Originalkontext?

Die Idee hinter diesem Prinzip geht zurück auf die massiven Veränderungen in der Softwareentwicklung in den letzten Jahrzehnten. Die Digitalisierung führte zu immer größeren, komplexeren Softwareprojekten – laut einer Studie von McKinsey hat sich beispielsweise der Komplexitätsgrad der Software in der Automobilbranche im letzten Jahrzehnt vervierfacht! Entsprechend stieg der Planungs- und Dokumentationsaufwand für Softwareprojekte und es brauchte dringend neue Ansätze, damit die Produktivität mit der zunehmenden Komplexität Schritt halten konnte. Denn bei aller Veränderungsbereitschaft (Agiles Prinzip #2) brauchen Entwicklungsteams doch entsprechend angepasste Prozesse, um effizient mit diesen Veränderungen umzugehen und trotzdem Wertschöpfung zu generieren.

Agile Projektteams arbeiten deshalb iterativ-inkrementell, teilen das Projekt also in kleine, in sich funktionsfähige (Teil)Ergebnisse auf, die in kurzen Zyklen umgesetzt und dann in Feedbackschleifen schrittweise verbessert werden können. Ein typisches Beispiel sind die sogenannten Sprints in Scrum-Teams.

Beispiel

Ein Softwarehaus vertreibt ein Textverarbeitungsprogramm. Statt einmal jährlich ein großes Update auszuspielen, werden neue Module, Features und Verbesserungen in kleinen Release-Paketen in vierwöchigen Zyklen veröffentlicht. So sehen Entwicklung, Vertrieb und Marketing frühzeitig, ob es für die gelieferten Funktionalitäten wirklich eine Zielgruppe gibt, sprich ob die Arbeit der letzten vier Wochen einen spürbaren Nutzen für die Software, die Nutzer:innen – und damit für das wirtschaftliche Ziel des Softwarehauses – liefert. Außerdem können Kund:innen so frühzeitig mit für sie wichtigen Funktionen arbeiten, ohne auf das Gesamtpaket warten zu müssen – und das Unternehmen kann bereits Umsatz generieren.

Wie lässt sich dieses Prinzip auf die Organisationsentwicklung übertragen?

Auch OE-Projekte sollen nicht nur regelmäßig, sondern in möglichst kurzen Abständen Teilergebnisse erzielen, die das Unternehmen voranbringen. Deshalb teilt die agile Organisationsentwicklung große Initiativen in sinnvolle kleinere Teilziele auf, verzichtet auf überlange Planungsphasen und vermeidet unnötige Bürokratie. Stattdessen wird auf das nächste greifbare Ergebnis fokussiert und dieses detaillierter definiert.

Das Ziel: Unternehmen gehen zupackend in die Umsetzung, liefern zügig Ergebnisse und nutzen die positive Energie der ersten Fortschritte, um in einen kollektiven “Flow” zu kommen. Unter Flow verstehen wir hier, dass die sicht- und spürbaren kleinen Erfolge Energie für den nächsten Schritt geben, anstelle einer “Durststrecke”, die erst nach langer Zeit Energie freisetzt. Mitarbeitende und Führungskräfte sehen, dass ihr Engagement unmittelbare Auswirkungen hat und dass sie in kurzen Intervallen Erfolge feiern können. So werden Misstrauen oder Blockaden schneller abgebaut und Argumente für die Freigabe von Budgets geliefert. Führt der eingeschlagene Weg nicht in die gewünschte Richtung, helfen kurze Feedback-Zyklen, diese Entwicklung frühzeitig zu erkennen und korrigieren zu können.

Was könnte “Lieferung in kurzen Zyklen” in der Organisationsentwicklung bedeuten? Vier Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen.

Kulturelle Transformation: Nach der Fusion von zwei Unternehmen wird ein Organisationsentwicklungsprojekt aufgesetzt, um die Kultur der beiden Unternehmen zu integrieren. Auch hier machen kurze Zyklen Sinn, um am Ball zu bleiben und den Mitarbeitenden beider Unternehmen das Gefühl zu geben, dass das Thema oben auf der Agenda bleibt und dass Veränderungen im Alltag schnell spürbar werden. Die Zwischenergebnisse der Zyklen bauen aufeinander auf, z.B. im ersten Zyklus eine Kulturanalyse der beiden Unternehmen, im zweiten Zyklus ein gemeinsamer Werte-Workshop, im dritten Zyklus ein Management-Kickoff zu einer Leitbild-Vision, im vierten Zyklus interne Teamentwicklungsmaßnahmen, um die Werte nachhaltig in die Teams zu tragen usw.

Kompetenzentwicklungsprogramm: Statt Talententwicklung mit der Gießkanne zu betreiben, beginnt ein agiles Talententwicklungsprogramm klein, beispielsweise mit einer Organisationseinheit / einer Führungsebene. So lassen sich passgenau Maßnahmen für diese Personengruppe herausarbeiten: Welche Kompetenzen braucht dieses Team oder diese Führungsebene, um das Gesamtergebnis zu verbessern? Welche einzelnen Fähigkeiten müssen dafür entwickelt werden? Wie funktioniert der Praxistransfer, so dass sich neu erworbene Fähigkeiten Schritt für Schritt zu echten Kompetenzen zusammensetzen? Der Vorteil: Im Gegensatz zu einer großen Weiterbildungsinitiative, die viele Maßnahmen gleichzeitig anstößt, lässt sich in fest definierten Phasen validieren, welche Maßnahmen den gewünschten Erfolg erzielen. Die Erkenntnisse aus dem Pilot-Projekt können dann auf andere Teams, andere Ebenen und andere Abteilungen ausgerollt werden.

Resiliente Lieferketten: Viele produzierende Unternehmen bemühen sich gerade, ihre Lieferketten unabhängiger von China oder generell krisenfester aufzustellen. Jede Änderung an der Lieferkette – auch wenn sie langfristig auf das große Ziel einzahlt – löst aber übergangsweise eine Destabilisierung aus, da sich eingespielte Abläufe ändern. Statt die Lieferkette an allen Ecken und Enden gleichzeitig zu transformieren, identifiziert ein agiler Ansatz ausgewählte Beschaffungsprozesse – das können Produkte mit dem größten “Abhängigkeitsschmerz” sein oder Prozesse, die sich für Quick Wins besonders unkompliziert transformieren lassen. Grundsätzlich geht es auch bei so großen Projekten wie “Lieferkette” darum, Abschnitte mit überschaubarem Umfang auszuwählen, diese Teilprojekte dann aber auch ehrgeizig zu takten, so dass regelmäßig spürbare Verbesserungen erzielt werden.

Agiles BGM: Welche Vorteile eine iterativ-inkrementelle Vorgehensweise im Betrieblichen Gesundheitsmanagement bietet, hat unsere Kollegin Jill Menon ausführlich in einem Blogartikel beschrieben – lesen Sie doch mal rein!

Typische Hürden

Eine Herausforderung ist die Definition geeigneter Zyklus-Längen. Die Zyklen müssen kurz genug sein, um Projekte nicht zu verschleppen, aber lang genug, um wirklich wertschöpfende Zwischenergebnisse erzielen zu können. Werden die Iterationen zu kurz gewählt, kann außerdem die Qualität leiden – beispielsweise wenn bei der Veränderung von Abläufen oder Hierarchien Compliance-Standards übergangen werden. Es braucht die richtige Balance zwischen dem bewusst eng getakteten Vorantreiben von Projekten und der Qualitätssicherung der Ergebnisse.

Aus unserer Sicht besonders wichtig ist eine Fehlerkultur. Denn trotz hohem Qualitätsanspruch dürfen in agilen Projekten Fehler gemacht werden. Oder anders formuliert. Die Angst vor Fehlern darf nicht dazu führen, dass Teams nicht ins Machen kommen oder bereits an einer etwas holprigen Startphase scheitern.

Für das Team fühlt es sich anfangs herausfordernd an, eng getaktet “liefern” zu müssen, häufig zusätzlich zu anderen Verantwortlichkeiten und Aufgaben. Mit Rückendeckung des Managements für das OE-Projekt werden klare Prioritäten gesetzt – falls nötig unterstützt durch zusätzliche personelle Ressourcen.

Oft müssen sich auch das Management, Mitarbeitende und Partner daran gewöhnen, dass es in kurzen Abständen Veränderungen gibt und vieles sich übergangsweise unfertig anfühlt und in Bewegung ist. Möglicherweise wirft der Live-Test Dinge um, die gerade erst definiert wurden. Der agile Ansatz, nicht erst ganz am Ende des Projekts ein perfektes Ergebnis zu präsentieren, sondern stattdessen mit kontinuierlich weiterentwickelten Zwischen- und Teilergebnissen zu arbeiten, braucht Akzeptanz und eine veränderte Erwartungshaltung bei allen Beteiligten.

Teamprove-Prinzip #3 der agilen Organisationsentwicklung

In unserer Serie überträgt Maria Langner alle 12 Prinzipien des agilen Manifests auf die Organisationsentwicklung. Weiter geht es im nächsten Artikel…

… mit dem agilen Prinzip der “täglichen Zusammenarbeit”: Wie gelingt es Teams, Silos aufzubrechen und so schnellere, bessere Entscheidungen zu treffen?

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Maria Langner versteht sich als Impulsgeberin für Teams, die sich weiterentwickeln möchten. Ihr Ziel: Werthaltige Ergebnisse mit der richtigen Balance zwischen agiler Flexibilität und sinnvoller Planung. Dafür bringt sie als Mediatorin und Motivatorin verschiedene Sichtweisen zusammen.

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