Das Buch “Coaching – Durch systemisches Denken zu innovativer Personalentwicklung“ von Jean-Paul Thommen und Wilhelm J. Backhausen gilt als Standardwerk zum Thema Coaching. Ursprünglich hatten sich die beiden Autoren einen ganz anderen Titel gewünscht – allerdings konnte sich ihr Vorschlag “Die Kunst, mit der Gans über den Weihnachtsbraten zu sprechen” beim Verlag nicht durchsetzen. Ich möchte trotzdem an diese Titelidee anknüpfen und Ihnen mit einer weihnachtlichen Fabel das systemische Coaching näherbringen. Denn Gänse sind nicht nur aus kulinarischer Sicht interessant!

Warum es manchmal gut sein kann, die Gans zu befragen

Es gibt unterschiedliche Anlässe für Coaching-Sessions – unter anderem Konflikte. Diese können sich an ganz profanen Themen entzünden wie beispielsweise dem „Weihnachtsbraten“: Soll es dieses Jahr eine Gans als Festessen geben? Manche überlegen vielleicht, ob eine Gans nachhaltig ist. Für andere ist eine Gans zu fett, da sie über Weihnachten nicht an Gewicht zunehmen möchten. Oder sie möchten lieber in ihrem Bauch Platz lassen für die wunderbaren Weihnachtsplätzchen, die die Tochter gebacken hat. Wieder anderen steht der Kopf überhaupt nicht nach “Weihnachten feiern” – sie möchten weder am Konsumrausch noch an Essensorgien teilnehmen, sondern lieber Ruhe, Besinnung, Erholung, vielleicht ein paar Tage in die Berge zum Wandern entfliehen oder endlich das tun, was sie schon lange tun wollten. Und es gibt Menschen, die (auch) an Weihnachten kein Essen wegwerfen möchten, sondern lieber spenden und ihr Geld und Essen mit denen teilen, die es nötiger haben. Eine große, fette Gans will manchen deshalb vielleicht so gar nicht auf die Speisekarte passen.

Haben wir jetzt mit der Gans über den Weihnachtsbraten gesprochen? Noch nicht. Wir haben die Gans zum Anlass genommen, über Weihnachten zu sprechen und darüber, dass es viele Auslöser für Coaching-Sessions geben kann. (Es ist tatsächlich so: Auch die (psycho-) therapeutischen Praxen sind in der Weihnachtszeit übervoll.)

Die Gans kann beispielsweise Auslöser für eine Diskussion werden, die sich um unsere Werte rankt. Weihnachten ist hierzu ein perfekter Aufhänger. Eine Gans als Weihnachtsbraten auch. Was ist uns an Weihnachten, am Fest der Liebe, wichtig?

Manchmal ist es im Coaching genau so wie mit der Gans zu Weihnachten: Ein Coachee kommt zu uns mit einem Anliegen, für das er alleine keine Lösung findet. Etwas, das ihn bewegt, ärgert, stört, quält oder belastet. Ein Feld, in dem er lernen möchte, neue Schritte zu gehen.

Wie läuft ein Coaching nun in etwa ab?

Begleiten Sie unseren fiktiven Coachee „Anton“ durch sein Coaching mit der Weihnachtsgans:

Anton kommt zum Coaching mit dem Anliegen: “Jedes Jahr will meine Familie bei meiner Frau und mir Weihnachten feiern und jedes Jahr soll es Gans als Hauptgericht geben. Ich weiß nicht, was mich genau daran so stört, aber ich möchte das in diesem Jahr nicht. Wenn ich das Thema anspreche, rennen alle weg. Es bahnt sich ein Konflikt an, den ich nicht möchte, schon gar nicht an Weihnachten.”

Der Coachee ist also Anton und ich bin die Coachin. Als erstes schaffe ich einen positiven Rahmen. Hierzu gehört es, dass ich mich mental und inhaltlich auf den Coachee vorbereite. Ich gestalte das Setting, auch ganz konkret im Raum (auch im virtuellen Raum) und bringe mich selbst in einen möglichst guten Zustand. Das bedeutet, dass ich nicht kurz vorher noch in einem Termin war, keine Emotionen oder “To do Listen” mitnehme oder auf die letzte Minute den Coaching-Raum betrete.

Im zweiten Schritt baue ich eine Verbindung (Rapport) zum Coachee auf und kalibriere. Ich beobachte und nehme wahr, wie es dem Coachee geht und begebe mich auf eine Erkundungsreise nach seinen Ressourcen. Ggf. unterstütze ich ihn, um seine Arbeitsfähigkeit herzustellen.

Ich frage Anton, wie es ihm geht, was ihn aktuell bewegt, wo er gerade steht (“ich hole ihn ab und nehme ihn mit”). Dabei achte ich auf seine Wortwahl, seine Atmung, seine Gesichtsfarbe, Gestik und Mimik.

Bei Anton nehme ich wahr, dass er ziemlich aufgeregt ist, schnell atmet, hektisch wirkt und Ausdrücke verwendet, die auf Aggressionen schließen lassen.

Danach hole ich mir von Anton meinen Coaching-Auftrag ab. Diese Phase halte ich möglichst kurz. Ziel: Das Thema klären, um das es heute gehen soll. Je nachdem wie Anton “gestrickt” ist, lade ich ihn ein, mir zu sagen, für welches Problem er eine Lösung braucht (Problemraum) bzw. was am Ende stehen soll, wenn sein Problem gelöst ist (Lösungsraum). Ich möchte, dass er schnell auf den Punkt kommt. 

Anton sagt nach einigem Hin und Her – es fällt ihm nicht leicht -, dass er Weihnachten einmal anders feiern möchte. Er will mit seinem Wunsch ernst genommen werden und eigentlich möchte er diesmal, warum auch immer, keine Gans auf der weihnachtlichen Speisekarte. Ich frage nach, woran er an Weihnachten erkennen würde, dass sein Problem gelöst ist. Daraufhin entsteht erstmal Schweigen (auch das kommt vor im Coaching).

Es ist keine einfache Aufgabe, sich vorzustellen, wie der Lösungsraum aussehen kann. Viel leichter fällt es uns, Probleme immer wieder zu erzählen, sie hin und her zu wenden und von allen Seiten zu beleuchten. Das Problem zu benennen ist zwar wichtig, aber sich daran festzuklammern ist eher hinderlich für eine mögliche Lösung (das beobachte ich sehr häufig in meiner Arbeit als Coach).

Ich gebe Anton also Zeit, damit er sich in diese neue Welt eines Lösungsraums in der Zukunft hineinfühlen kann. Auf einer Timeline betrachtet, geht es an dieser Stelle darum, in diesem Moment nicht nach hinten zu schauen (in die Vergangenheit), sondern nach vorne (in die Zukunft). Das Alte ist nur zu oft ein vertrauter Begleiter geworden, Muster haben sich eingestellt gleich einem Stock, den wir gerne als Gehstütze einsetzen. Ist der Coachee überhaupt bereit für eine Veränderung und einen Richtungswechsel?

Schließlich formuliert Anton sein Ziel folgendermaßen: „Ich habe ein Problem mit der Gans und möchte keine Gans auf unserer Weihnachtsspeisekarte. Ich weiß aber nicht, wie ich das meiner Familie beibringen soll.”

Im nächsten Schritt hole ich im Dialog mit Anton weitere Informationen ein und erstelle eine Art “Anton-Landkarte”: Was macht Anton aus? Wie erlebt und filtert er Geschehnisse, welche Glaubensmuster treten auf, welche Muster bringt er mit, welche Metaprogramme laufen in ihm ab? Gibt es irgendwo fehlende Inkongruenzen (Unstimmigkeiten) z. B. zwischen seinen Werten und gelebten Handlungen? Wo braucht er mehr Balance, wo gibt es Ressourcen, welche Potentiale hat er?

Anton hat einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Seine Eltern leben in Polen und erleben den Ukrainekrieg als direkte Nachbarn. Er erträgt es nur schwer, dass er mit seiner Familie im Wohlstand (und Gänsefett) schwimmt, während viele Menschen nur 1000 Kilometer von uns entfernt überhaupt nicht in Ruhe Weihnachten feiern können.

Jetzt geht es in der Coaching-Sitzung darum, Ideen für eine Lösung, ein Ziel zu entwickeln. Welche Vorstellungen bzw. Visionen hat Anton in Bezug auf Weihnachten und die Gans? Wo befindet sich in seinem Wunschbild die Gans? Was möchte Anton an Weihnachten umsetzen können, was er jetzt noch nicht kann? Ich achte darauf, dass der Lernfortschritt von ihm selbst ausgeht, er also in Eigenverantwortung handeln wird. Bei der Formulierung der Frage ist es wichtig, sie in der “Ich”-Form und positiv zu formulieren.

Wichtig ist außerdem: In welchen Bereichen ist er schon erfolgreich, in welchen Bereichen gelingt es ihm, gemäß seinen Werten und Überzeugungen zu leben und sich mit seinen Mitmenschen dazu auszutauschen?

Er formuliert anschließend sein Ziel folgendermaßen: “Ich möchte an der Art und Weise, wie wir als Familie Weihnachten feiern, etwas verändern und ich möchte, dass wir als Familie, auch an Weihnachten, solidarisch mit unseren nächsten Nachbarn leben”.

Ich spüre in Antons Erzählungen, dass er einen besonderen Bezug zu Tieren hat. Seine Eltern haben einen landwirtschaftlichen Hof in Polen und er ist mit vielen Tieren, auch Gänsen, aufgewachsen. Für ihn gehören Tiere dazu – auch auf dem Essenstisch. Gleichzeitig ist er aus Nachhaltigkeitsgründen seit einem Jahr Vegetarier und steht deshalb in einem schwelenden inneren Konflikt, der in den letzten Monaten durch den Ukrainekrieg verschärft wurde. Er spürt, dass die Zeit reif ist für Veränderung, auch in Bezug auf Weihnachten, auch in Bezug auf den Gänsebraten. Nur weiß er nicht genau, an welcher Stelle es “klemmt”. Woher rührt seine Missstimmung?

Es geht also nun darum, einen geeigneten Hebel zur Veränderung zu finden und an dieser Stelle anzusetzen, um das Ziel (die Lösung) zu erreichen. Der gewählte Veränderungsschritt soll dieses “Klemmen”, die Blockade auflösen.

Und jetzt komme ich zurück auf den anfangs erwähnten Buchtitel “Die Kunst, mit der Gans über den Weihnachtsbraten zu sprechen”: Da Anton immer noch einen besonderen Bezug zu Tieren hat, entscheide ich mich dafür, die (Weihnachts-)Gans zu unserem Coachinggespräch einzuladen und frage Anton, ob er einverstanden ist. Er freut sich über die Idee und stimmt zu.

Nun sitzen wir also zu dritt: Anton, ich und die Gans, die ihren eigenen imaginären Platz erhält. Das kann bei einem Präsenzcoaching beispielsweise ein dritter Stuhl und ein Stofftier sein. Da unsere Sitzung virtuell ist, halte ich eine Figur “Gans” in die Kamera. Ich informiere die Gans – sie heißt Lotte – über unser Thema.

Anton teilt Lotte seine aktuelle Situation und seine Zielfrage mit: “Ich möchte an der Art und Weise, wie wir als Familie Weihnachten feiern, etwas verändern und ich möchte, dass wir als Familie, auch an Weihnachten, solidarisch mit unseren nächsten Nachbarn leben”.

Ich bedanke mich bei Anton und frage ihn, was Lotte ihm antwortet. Nun entwickelt sich ein Dialog zwischen den beiden, den ich moderiere. Immer wieder frage ich Anton, wie Lotte reagiert und was sie sagt.

Lotte fragt unter anderem, was sie mit Anton Weihnachtsproblem zu tun habe. Anton erzählt daraufhin vom Gänsebraten, den er nicht mehr möchte. Es wird klar, dass Anton viele Jahre sehr dankbar für Lotte war – hier sinnbildlich für die Gänse auf dem familiären Bauernhof, an die er schöne Kindheitserinnerungen knüpft. Nun möchte er seinen Dank gerne teilen mit Menschen, die nicht so im“Fett schwimmen” wie seine eigene Familie. Er stellt gleichzeitig fest, dass es ihm schwerfällt, sich von Lotte als Weihnachtsbraten zu trennen. Er holt sich von Lotte nun eine Genehmigung zum Teilen: Er möchte die Gans gerne weitergeben. Lotte bekräftigt seinen Entschluss und lobt ihn dafür, dass er solidarisch denkt. Anton fühlt sich befreit für seine persönliche Entscheidung.

Lotte geht im Verlauf des Gesprächs noch weiter ins Detail: Sie betont, dass sie zu einer sehr sozialen Tierart gehört. Beispielsweise wird eine verletzte Gans beim Flug im Schwarm von zwei Gänsen am Ende der Gruppe begleitet, bis sie wieder gesund ist oder stirbt – erst dann reihen sich die beiden Unterstützer wieder vorn ein. Kooperation wird im Gänseschwarm generell groß geschrieben, denn auch an der Spitze der Flugformation wechseln sich die Individuen ab: Wer sich als Anführer ausgepowert hat, hängt sich zur Erholung am Schwarmende an und überlässt die Führung einer anderen Gans.

Gestärkt durch das Gespräch mit Gans Lotte nimmt sich Anton vor, mit seiner Familie über Weihnachten – und den Gänsebraten – zu sprechen. Mit einem kurzen Öko-Check (wie wird die Familie reagieren?) nimmt er die Aufgabe für die nächste Woche mit nach Hause und wird ganz bestimmt viele Grüße von Lotte zu Weihnachten ausrichten.

Sie sehen: Coaching ist manchmal auch die Kunst, mit der Gans über den Weihnachtsbraten zu sprechen. Und jedes Cochinggespräch läuft garantiert “gans” anders.

Gesprächsbedarf?

Ich würde mich freuen, wenn ich mit meiner kleinen Weihnachtsfabel eine humorvolle Anregung liefern konnte, wie sich mit einem Coaching unterschiedlichste Veränderungen anstoßen und begleiten lassen. Gerne tausche ich mich mit Ihnen dazu aus. Ganz unverbindlich.

Ursula Niehaus

Coach

Kontakt

Quellenangabe:  

Backhausen, Wilhelm & Thommen, Jean-Paul: Coaching. Durch systemisches Denken zu innovativer Personalentwicklung, Wiesbaden 2003).

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Ursula Niehaus war als Organisationsentwicklerin bei Teamprove tätig.

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