Im Zusammenhang mit verteilt arbeitenden Teams liest und hört man häufig die Aussage, dass durch die Remote-Situation der Führungsaufwand gestiegen sei. Auf den ersten Blick mag das so erscheinen, denn die Mitarbeitenden brauchen eine engere Form der Kommunikation und auch die Team-Dynamik und die Motivation der Gruppe benötigen besondere Aufmerksamkeit. Es ist schwieriger, alle im Blick zu behalten und häufig braucht es mehr Augenmerk auf die individuelle Begleitung einzelner Teammitglieder.

Aber auch, wenn die Remote-Bedingungen im Lockdown-Szenario sicherlich sehr besonders waren, stellt sich dennoch die Frage: Entstehen für Führungskräfte wirklich neue Aufgaben oder erfordert die veränderte Situation lediglich, dass sich Führungskräfte konsequenter auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren müssen: Menschen zu führen?

Die Definitionen für den Begriff ‘Führungskraft’ sind mannigfaltig und kulturell sowie soziologisch geprägt. In Wörterbüchern findet man beispielsweise Definitionen wie “jemandem den Weg zeigen und dabei mit ihm gehen” oder “veranlassen, an einen bestimmten Ort mitzukommen”. Auch interessant: Der Wortstamm ‘Führen’ geht zurück auf ‘fahren’ oder “etwas in Bewegung bringen.” (Quelle: Oxford Languages, Begriff ‘Führen’)

Übertragen auf die Führungskräfte in Unternehmen würde das bedeuten, dass ihre Kernaufgabe darin besteht, Themen und Mitarbeitende zu begleiten und bestenfalls von einem guten Zustand in einen noch besseren Zustand zu führen.

Die meisten Führungskräfte würden dieser Aufgabendefinition sicherlich auch zustimmen – allerdings zeigt die Praxis, dass gerade in den letzten Jahren Führungskräfte einen wachsenden Teil ihrer Kapazität in operative Tätigkeiten und Abstimmungsprozesse investieren. Ständig müssen inhaltliche Entscheidungen getroffen werden – meist schnell. Oder der entgegengesetzte Fall: Entscheidungen erfordern zermürbende und langwierige interne Abstimmungen. Häufig sind die gewachsenen Strukturen in ihren Abläufen und Hierarchien immens verstrickt und fressen einen Großteil der Energie aller Beteiligten – auch die der Führungskräfte.

Was sollten die Kernaufgaben einer Führungskraft sein? Eine kurze Analyse.

Die Führungskraft als Vorbild

Mitarbeitende beobachten ihre Führungskräfte ganz genau. Handeln sie souverän und authentisch? Sind sie glaubwürdig? Machen die Entscheidungen Sinn? Lebt die Führungskraft das, was sie von ihren Mitarbeitenden erwartet? Ein typisches Beispiel ist der Umgang mit Pausenzeiten: Nimmt sich die Führungskraft selbst keinen Raum für Erholung, sondern arbeitet ununterbrochen und wirkt eher erschöpft, so werden ihr die Mitarbeitenden jegliche Empfehlung zur Selbstfürsorge oder Achtsamkeit mit der Gesundheit nicht abnehmen. Anderes Beispiel: Erwartet eine Führungskraft Pünktlichkeit von den Teammitgliedern, kommt aber selbst ständig zu spät zu gemeinsamen Meetings, so fühlen sich die Mitarbeitenden vermutlich nicht wertgeschätzt und werden künftig ebenfalls weniger auf Pünktlichkeit achten. Handelt die Führungskraft aber selbstbestimmt, vertraut dem Team und ermöglicht das eigenständige Arbeiten, so werden die Mitarbeitenden mit großer Wahrscheinlichkeit diese vorgelebten Werte auch untereinander oder in anderen Projekten – zumindest in Teilen – ebenso handhaben.

Die Führungskraft als Werte-Träger

Aus der Vorbild-Rolle ergibt sich automatisch auch das Thema Werte: Hat die Führungskraft im Arbeitsalltag den Raum, innezuhalten und sich die eigenen Werte bewusst zu machen? Welche Rolle spielt das Bewusstsein über die eigenen Werte, Bedürfnisse und Ziele überhaupt? Werte dienen als Anker, immer dann, wenn es stürmisch wird. Werte helfen dabei, immer wieder zurückzukehren, wenn der Aktionismus die Überhand gewinnt. Werte müssen in ‘guten’ Zeiten definiert werden, damit man sie in turbulenten Phasen nicht aus den Augen verliert. Dafür braucht es ein gewisses Maß an Selbstreflexion. Und diese ist nur möglich, wenn der dafür nötige Raum eingerichtet wird. Auch innerhalb des Arbeitsalltags und nicht nur in den 20 Minuten auf dem Weg zur Arbeit.

Die Führungskraft als Coach

Hier könnte man sicherlich weit ausholen und austarieren, ob das Coaching der Mitarbeitenden nun wirklich die Aufgabe einer Führungskraft ist. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass es von großem Vorteil ist, wenn eine Führungskraft ihre Mitarbeitenden aus der Coach-Perspektive sieht und ihre Bedürfnisse erkennt oder erfragt. Das ermöglicht es Führungskräften, das Team, die Abteilung, die Organisation als systemisches Konstrukt zu erkennen – also die Einheit als einen ganzen Organismus zu sehen, in der die Beteiligten durch ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse bestmöglich und organisch miteinander funktionieren und interagieren. Wer eine Organisation als Ganzes betrachtet, wird wahrnehmen, an welchen Stellen es (noch) Begleitung oder Führung braucht. Ein guter Coach kann so etwas. Eine gute Führungskraft idealerweise auch.

Die Führungskraft als Vermittler der Unternehmensziele

Nach obiger Definition führt die Führungskraft neben Menschen häufig auch Themen voran. Diese Themen sind häufig mit den Unternehmenszielen verbunden. Glücklicherweise geht die Tendenz weg von mitarbeiterabhängigen Zielen hin zu den OKR (Objectives and Key Results), also Ziele auf Basis der Kernergebnisse des Unternehmens. Das impliziert, dass die Mitarbeitenden auch in die Zielerreichung der Organisation involviert werden und ihren Teil der Verantwortung tragen. Selbstbestimmtheit in Teams bedeutet also nicht, dass jeder auf individueller Ebene macht, was er will, und der Rest irrelevant ist. Diese Einbeziehung in die Zielerreichung der Organisation kann die Beteiligten intrinsisch motivieren, was die Eigenverantwortung sogar fördert. Die Aufgabe der Führungskraft ist es, die Balance zu finden zwischen den unternehmerisch erforderlichen Zielen und den Fähigkeiten ihrer Teammitglieder.

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Zeit für die wesentlichen Führungsaufgaben

Wenn man sich den Ausmaß der beschriebenen Kernaufgaben vor Augen hält, versteht man besser, warum es nicht tragbar ist, dass Führungskräfte zu intensiv ins das operative Tagesgeschäft eingebunden sind. Studien weisen immer wieder auf die Burnout-Thematik bei Führungskräften hin. Der Hernstein-Management-Report belegte schon im April 2017 – also lange vor den Besonderheiten der Lockdowns – eine Burnout-Quote bei Führungskräften von 31% – und die Studienergebnisse auf Basis der letzten 15 Monate werden diese Zahl sicherlich noch nach oben korrigieren. Der Business Insider schreibt bereits von 44 Prozent betroffenen Entscheidern ergo Führungskräfte.

Es ist deshalb wichtig, dass Führungskräfte den Rücken freigehalten bekommen und nicht das Gefühl haben, dass ständig “jemand etwas von ihnen will”. Ihr Arbeitstag muss irgendwann beendet sein und darf sich nicht permanent mit der Erholungszeit des privaten Bereichs überlappen. Wer eine gesunde, funktionierende Organisation will, braucht gesunde Führungskräfte!

Raum zur Reflexion

Bereits erwähnt, aber aufgrund der Wichtigkeit nochmals betont: Jeder Mensch braucht in seiner Tätigkeit Raum zum Reflektieren. Und das sollte auch innerhalb der Arbeitszeit möglich sein. Das gilt im besonderen Maße für Mitarbeiter, die viel überblicken müssen, also eben auch für Führungskräfte. Die Zeiten, in denen Menschen nur nach ihrem Output gemessen werden, sollten sich allmählich verabschieden. Herangehensweisen wie OKR machen es transparent und möglich. Es ist vielleicht auch ratsam zu hinterfragen, ob Erfolg und Status einer Führungskraft wirklich an der Anzahl der hierarisch zugeordneten Mitarbeitenden gemessen werden sollte – oder vielleicht eher an einem gesunden, mit den Unternehmenszielen einhergehenden Ergebnis. Hierarchie als Statussymbol ist zunehmend “oldschool”. Für solche Allüren ist in der Dynamik des digitalen Wandels nicht mehr viel Raum.

Zitat Sonja Maria Fabiao

Raum zum Ausprobieren und Raum zum kontrollierten Scheitern

Wir befinden uns in Zeiten eines immensen Wandels. Vieles von dem, was vielleicht gebraucht wird, ist noch nicht da, wurde noch nicht gelernt und muss erst einmal erforscht und ausprobiert werden. Das betrifft alle Beteiligten einer Organisation. Es braucht genau diesen Raum, um die geforderte Selbstbestimmtheit und Autonomie der Organisation zu integrieren und neu zu lernen. Auch die Führungskraft braucht die Flexibilität, um die neuen Rahmenbedingungen zu erforschen und herauszufinden, wann es klug ist, eine Entscheidung direkt bzw. allein zu treffen oder wann es ratsam ist, die Mitglieder des Teams an der Lösung und Entscheidungsfindung zu beteiligen. Fehlentscheidungen – bestenfalls in kontrolliertem Ausmaß – müssen dabei möglich sein, ohne die Motivation zum Verbessern und Ausprobieren zu ersticken.

Was haben denn nun Remote Work und hybrides Arbeiten verändert?

Im Kern nicht sehr viel. Ausser dass die Rolle und die Rahmenbedingungen für Führungskräfte nochmal neu überdacht werden sollten. Die Burnout-Autobahn der letzten Jahrzehnte darf und sollte nun endlich verlassen werden, indem wir die Situation der Neuorientierung nutzen, um eine gesunde Arbeitskultur für alle Beteiligten zu schaffen.

Das bedeutet Mitarbeiter dort zu entlasten, wo sie auszubrennen drohen – auch Führungskräfte. Es bedeutet Rahmenbedingungen zu schaffen, in die dieser Wandel zum Wohle aller Beteiligten – auch der Unternehmensziele – eingebettet werden kann. Es bedeutet Führungskräfte als Menschen wertzuschätzen, die andere Menschen führen und begleiten. Es bedeutet Teams zu kultivieren, die ihren Führungskräften auch den Rücken freihalten können. Und es bedeutet Unternehmensziele zu definieren, die die Basis für eine übergeordnete Gesundung auf allen Ebenen und für alle Beteiligten schaffen, statt weiter hinzunehmen, dass Menschen die Freude an ihrer Arbeit verlieren und emotional, mental oder körperlich ausbrennen.

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Sonja Maria Fabião war als Organisationsentwicklerin bei Teamprove tätig.

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