Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Ihnen jemand prüfend über die Schulter blickt, auch wenn Sie allein sind? Ganz unbewusst fühlen wir uns in vielen Situationen beobachtet, kontrolliert, bewertet oder vielleicht sogar bestraft. Was Sie empfinden, ist der sogenannte “Wächterblick”, also das “sich beobachtet fühlen” durch Personen oder Systeme – durch Führungskräfte, Lehrer:innen oder Professor:innen, durch Zeiterfassung, KPIs, Zertifizierungen oder Boni. Ab dem Zeitpunkt unserer Geburt sind wir in Machtstrukturen eingebunden, in denen wir an bestimmten Maßstäben gemessen werden und Übergeordnete eine überwachende Kontrolle ausüben.

Macht ist Teil unserer Gesellschaft und unserer Arbeitswelt. Und das ist nicht zwingend negativ. Es kommt immer darauf an, welches Verständnis wir von Macht und Machtausübung haben. Indem wir Kräfteverhältnisse gestalten, kann Macht etwas bewegen, sie hat ein Ziel. Wir setzen Macht ständig ein, um auf das Denken und Verhalten von Personen oder Gruppen einzuwirken, beispielsweise als Leitplanken in der Erziehung oder als MbOs in der Arbeit.

„Macht ist ein produktives Prinzip in der Gesellschaft. Sie bringt Wissen hervor, erschafft durch ihre Kontrolle das Individuum und ganze Institutionen und Techniken.“ (Michel Foucault / französischer Philosoph)

Aber wir dürfen – und wir sollten – Macht immer kritisch hinterfragen. Wodurch ist sie legitimiert? Welchen Zweck und welches Ziel hat sie? (Foucault beispielsweise beschäftigte sich mit dem Machtbegriff ursprünglich im Zusammenhang mit der Frage, wie sich viele Menschen mit wenig Führung steuern lassen – Beispiel Kaserne.) Passt die jeweilige Machtstruktur zu unserer aktuellen Gesellschaft oder Arbeitswelt?

Nehmen wir im Arbeitskontext das Beispiel Lean Management – eine durchaus erfolgreiche Methode, um Wertschöpfungsketten effizienter zu gestalten. Der Fokus liegt auf der Vermeidung von Verschwendung und harmonisierten Prozessen. Erreicht wird dieses Ziel durch den Dreischritt der Normierung, Normung und Normalisierung (sehr anschaulich erklärt auf der Seite leanbase.de):

  • Normierung: Ein Kennzahlensystem wird eingeführt, in dem alle Elemente der Organisation ihren Platz erhalten und das die Beziehungen von Abteilungen, Positionen und Menschen untereinander definiert.
  • Normung: Standards legen fest, welche Leistung jedes Element im System erbringen soll – mit Zielwerten (Soll) und Bewertungskriterien, meist ergänzt durch Sanktionen und Boni für Unterschreitung bzw. Erfüllung.
  • Normalisierung: Die Organisation erreicht den Zustand, dass die eingeführten Regeln als normal wahrgenommen werden – sie werden nicht mehr hinterfragt.

Lean Management ist also ein disziplinierendes System, das Macht und Kontrolle einsetzt, um das Ziel Effizienz zu erreichen. Das funktioniert und die Mitarbeitenden steuern sich sogar selbst über die Kennzahlen. Aber schauen wir genauer hin:

Wer gut in dieses System passt, wird belohnt. Es gibt aber fast immer Mitarbeitende, die sich in diesem System nicht wohlfühlen oder denen es in diesem System vielleicht sogar schlecht geht – beispielsweise weil sie sich dauernd unter Zugzwang fühlen, an Unzufriedenheit und Selbstzweifeln leiden oder sich überfordern. Stichwort “Hamsterrad”.

Arbeitnehmende kontrollieren sich über die Kennzahlen außerdem nicht nur selbst, sondern auch gegenseitig. Was ist mit Mitarbeitenden, denen diese Form der Anpassung schwerfällt, die ein Mindset mitbringen, in dem Vorgaben und Maßnahmen hinterfragt werden und die gerne auch mal von der Norm abweichen? Sind diese Kolleg:innen Störenfriede im System und werden deshalb ausgesiebt? Fühlt man sich dem Unternehmen nur zugehörig, wenn man der Norm entspricht?

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte Lean Management nicht seine Berechtigung abstreiten. Und wir bei Teamprove sind auch nicht gegen Zielerreichungssysteme oder KPIs. Aber wir hinterfragen, welche Form von Unternehmenssteuerung in die heutige Zeit passt. In eine Zeit des Fachkräftemangels und steigender Burnout-Zahlen. In eine Arbeitswelt, in der die Generation Z Werte wie Work-Life-Balance und gesundes Arbeiten für sich einfordert. Können es sich Unternehmen noch leisten, Menschen ohne Rücksicht auf Verluste durch eine Effizienz-Mangel zu drehen, während wir gleichzeitig händeringend nach Bewerbern suchen? Sollten wir nicht fürsorglicher mit der knappen Ressource Mensch umgehen? Und ist es sinnvoll, ein System zu etablieren, in dem Menschen beim Erreichen des definierten Performance-Ziels (und des damit verknüpften Bonus) den Bleistift fallen lassen? Könnten wir Menschen auf der Suche nach sinnhaften Jobs nicht viel mehr für die “Extrameile” begeistern, wenn Reflektion, Kritik und Hinterfragen von Zielen nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht sind? Wäre es nicht viel motivierender, als Team erfolgreich zu sein, statt auf Basis von KPIs die Mitarbeiter des Monats zu küren?

Ich glaube, sehr viele von uns wünschen sich – unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu Generation X, Y oder Z – ein gesünderes Arbeitsumfeld, eine wertschätzendere Führung und Safe Spaces für Kommunikation und Innovation. Aber wie soll das ohne eine ausreichende Selbstfürsorge funktionieren, wenn Macht nur als Mittel für die Effizienzoptimierung eingesetzt wird?

Eine wichtige Frage für die Zukunft wird deshalb sein, welches Machtverständnis Unternehmen haben und wie sie Macht (neu) gestalten. Der Wächterblick produziert Angst, Ablehnung oder Unterwerfung bei den Mitarbeitenden. Der fürsorgliche Blick generiert Vertrauen, Wohlwollen und Wohlsein. Die Machtform vom Wächterblick hin zum Fürsorgeblick zu ändern, wird nicht nur Mitarbeitende stärker an das Unternehmen binden, sondern das gesamte Arbeitsklima von psychisch belastender Angst und operativ belastender Kontrolle entlasten. Machtstrukturen aktiv und progressiv zu gestalten zeichnet zukunftsorientierte Unternehmen aus.

Ganz wichtig: Widerstand und Kritik sind in Ordnung! Um es nochmal mit Foucaults Worten zu sagen: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand.” Ich gehe noch weiter: Jede:r Mitarbeitende ist aufgefordert, sich mit den bestehenden Machtstrukturen auseinanderzusetzen und sie bewusst als Teil der Unternehmenskultur anzunehmen, einen Beitrag zu ihrer Weiterentwicklung zu leisten oder das Unternehmen zu verlassen.

Machtstrukturen zu verändern, bedeutet die Spielregeln und das Mindset in der Organisation grundlegend zu verändern – das ist nicht einfach, denn fast immer wirkt ein Teil der Macht im Verborgenen und prägt durch ungeschriebene und unausgesprochene Regeln die Zusammenarbeit im System. Dabei möchten wir Unternehmen unterstützen und begleiten. Ja, auch mit Zielen und Leitplanken, denn wirtschaftlicher Erfolg braucht Führung und Struktur – wir sind keine Fans von Anarchie. Aber wir behalten bei aller Effizienz die einzelnen Menschen und die Teams im Blick. Wir glauben an intrinsische Motivation und Teamplay, an Selbstorganisation und vertrauensvolle Führung. Und wir sind davon überzeugt, dass dieser Weg zu einem nachhaltigeren, gesünderen Erfolg führt.

Dafür braucht es keinen Wächterblick, sondern einen wohlwollenden, fürsorglichen Blick auf uns selbst und auf andere. Fällt Ihnen ein guter Begriff dafür ein?

Quellen:
krass-mag.net
iph-hannover
Leanbase

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Antonia Marx hinterfragt und optimiert unsere Abläufe und hat ein offenes Ohr für die Fragen unserer Kunden. Ihr Ziel: Die richtigen Unternehmen mit den richtigen Beratern und Coaches zusammenbringen.

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