Wenn Teams und Unternehmen sich weiterentwickeln und verbessern möchten, führt kein Weg an einer ehrlichen, strukturierten Reflexion vorbei. Genau hier setzt die Retrospektive an. Ursprünglich aus der agilen Softwareentwicklung stammend, hat sich dieses Format als universelles Werkzeug etabliert, das weit über den Kontext des Projektmanagements hinaus eingesetzt werden kann. Auch in der Organisationsentwicklung helfen Retrospektiven, die Zusammenarbeit zu verbessern, die Lernkultur zu stärken und Veränderungsprozesse strategisch voranzutreiben – aber zu konkreten Einsatzszenarien später in diesem Artikel mehr.

Was ist eine Retrospektive genau?

Retrospektiven sind fester Bestandteil iterativer, agiler Frameworks wie beispielsweise Scrum. Das Agile Manifest formuliert klar: „In regelmäßigen Abständen reflektiert das Team, wie es effektiver werden kann, und passt sein Verhalten entsprechend an.“

Im Scrum-Projektteams findet daher alle zwei bis drei Wochen, nach jedem Sprint, eine Retrospektive statt. Dabei geht es nicht um fachliche Inhalte oder Projektplanung, sondern ausschließlich um die Zusammenarbeit des Teams:

  • Was lief gut – und was weniger?
  • Gibt es Blockaden und warum?
  • Was behindert uns?
  • Was brauchen wir, um besser arbeiten zu können?

Der Fokus liegt auf Verhalten, Interaktion, Teamprozessen, Rahmenbedingungen – und vor allem auf konkreter, unmittelbarer Veränderung. Retrospektiven adressieren die “Man-müsste-mal”-Themen mit diffusen Deadlines und nicht benannten Verantwortlichkeiten. Das bedeutet gleichzeitig auch, dass auf Basis gemeinsamer Entscheidungen transparent wird, welche Themen bewusst nicht angegangen werden können oder wollen.

Wichtig: Retrospektiven konzentrieren sich auf Themen, Wünsche und Erwartungen, an denen die Retrospektiven-Teilnehmer tatsächlich selbst etwas verändern können – nicht auf Themen, wo “die anderen” endlich mal ran sollten! Auf keinen Fall darf eine Retrospektive zur Mecker- oder Auskotz-Runde werden, sondern es geht um Wirkung und Verbesserung.

Ablauf einer Retrospektive

Der Standardprozess für Retrospektiven orientiert sich an den fünf Phasen aus “Agile Retrospectives” von Esther Derby und Diana Larsen. Die Dauer beträgt meist neunzig bis einhundertzwanzig Minuten:

„Set the stage“ (5 %)
Ankommen und Klärung der Ziele

„Gather data“ (30-50 %)
Fakten, Beobachtungen, Stimmungen sammeln: Was haben wir seit der letzten Retrospektive verändert – und was ist das Ergebnis? Was war während der letzten Projektphase gut? Was war schlecht? Welche Fakten über Qualität/Produktivität etc. stehen für die Beurteilung zur Verfügung?

“Generate insights“ (20-30 %)
Einsichten gewinnen und Muster erkennen: Warum sind die Dinge wie sie sind?

„Decide what to do“ (15-20 %)
Maßnahmen finden & Entscheidungen treffen: Was soll geändert / verbessert werden? Mit welchen Maßnahmen und konkreten Lösungsansätzen?

“Close the retrospective“ (10 %)
Abschließen, Dank, Festhalten der nächsten Schritte

Retrospektiven eignen sich überall dort, wo kontinuierliche Verbesserung entscheidend für den Erfolg ist – im Idealfall nicht erst nach Projektende (im Unterschied zu “Lessons Learned”-Veranstaltungen).

Retrospektive vs Lessons Learned - was ist der Unterschied?

Viele Organisationen arbeiten bereits mit „Lessons Learned“. Welchen Vorteil bieten Retrospektiven?

Lessons Learned …

  • finden fast immer am Ende eines Projekts statt
  • haben häufig Dokumentationscharakter
  • wirken selten unmittelbar, da das Projekt abgeschlossen ist und das Projektteam häufig aufgelöst wird – also gar keine Gelegenheit mehr hat, das Gelernte gemeinsam anzuwenden
  • bleiben deshalb oft ohne echte Umsetzung, sondern landen in der Schublade

Retrospektiven …

  • finden regelmäßig und wirkungsnah statt
  • fokussieren auf Zusammenarbeit
  • generieren konkrete, kurzfristige Verbesserungsmaßnahmen mit der verbindlichen Entscheidung, diese umzusetzen
  • priorisieren auf wenige, ausgewählte Themen – aufgrund der Regelmäßigkeit muss nicht alles auf einmal angegangen werden
  • erhöhen die Umsetzungsgeschwindigkeit

Kurz:
Lessons Learned sind rückwärtsgewandt.
Retrospektiven gestalten Zukunft.

Warum Retrospektiven ein effektives Werkzeug sind

Agile Teams nutzen Retrospektiven, um sich in der Abfolge ihrer Sprints (aufeinander aufbauende Arbeitszyklen eines Projekts) laufend zu verbessern. Organisationen können Retrospektiven unter anderem nutzen, um Wandel in dynamischen Umfeldern steuerbar und die Ergebnisse besser zu machen – unabhängig von Branchen und Unternehmensbereichen.

Retrospektiven …

  • fördern psychologische Sicherheit
  • brechen Silos auf, indem sie multidisziplinäre Perspektiven bündeln.
  • stoßen Veränderungsprozesse an, statt sie nur zu planen.
  • empowern Mitarbeitende, aktiv an der Weiterentwicklung mitzuwirken.
  • machen Warnsignale früh sichtbar, die sonst untergehen würden.

Retrospektiven machen Unternemen adaptiv und tragen dazu bei, dass Organisationen weniger starr, weniger träge und weniger fehleranfällig sind – sondern stattdessen flexibel, veränderungsbereit und lernfähig.

Vier Anwendungsbeispiele für Retrospektiven in Organisationen

Der Klassiker: Retrospektiven in der Produktentwicklung

In der Produktentwicklung dienen Retrospektiven dazu, den gesamten Entwicklungsprozess kontinuierlich zu optimieren. Sie helfen Teams, schneller auf Kundenfeedback, neue technische Herausforderungen oder Marktveränderungen zu reagieren. Case-Beispiel: Ein Entwicklungsteam stellt fest, dass Features ständig verspätet live gehen.

Regelmäßige Retrospektiven …

  • optimieren die Prozesse: Das Team identifiziert Reibungspunkte wie unklare Anforderungen oder Ineffizienzen im Workflow.
  • verbessern die Zusammenarbeit: Rollen, Übergaben und Verantwortlichkeiten werden geklärt.
  • thematisieren technische Schulden: Technische Risiken oder fehlende Tests werden diskutiert und priorisiert, bevor sie teuer werden.
  • binden Kunden- und Nutzerfeedback früh ein: Erkenntnisse aus Tests oder dem Support fließen direkt in die Produkt-Roadmap ein.
  • fokussieren auf Liefertreue und Qualität: Teams reflektieren gemeinsam, wie sie Aufwandsschätzungen und die Planung verbessern können, um stabiler und vorhersehbarer zu liefern.

Retrospektiven in der Bereichs- oder Abteilungsentwicklung (z. B. Marketing, HR, Vertrieb…)

Teams, die nicht in agilen Projektzyklen arbeiten, stehen trotzdem häufig vor ähnlichen Herausforderungen: Prioritäten oder Rollen wechseln, Stakeholder mischen sich ein oder Schnittstellen sind unklar. Case-Beispiel: Ein HR-Team stellt fest, dass immer mehr neue Mitarbeitende noch vor dem ersten Arbeitstag abspringen („Preboarding-Fluktuation“).

Regelmäßige Retrospektiven …

  • machen Stolpersteine in der Candidate Journey transparent: Das Team sammelt systematisch Feedback aus Absagen, Bewertungen in Karriereportalen und Preboarding-Gesprächen und kann so Muster – und auch Fortschritte – erkennen.
  • optimieren die Candidate Experience in der Preboarding-Phase: Das Team priorisiert gemeinsam die wichtigsten Schwachstellen wie z.B. lange Bearbeitungszeiten oder Brüche zwischen Versprechen im Recruiting und tatsächlicher Erfahrung im Onboarding. So können zeitliche und budgetäre Ressourcen auf Maßnahmen mit dem größten Hebel fokussiert werden.
  • reduzieren Koordinationsprobleme zwischen HR und den Fachbereichen: Unklare Zuständigkeiten – etwa wer nach Vertragsunterzeichnung kommuniziert oder wer welche Unterlagen bereitstellt – werden gemeinsam und für alle verbindlich geklärt.

Retrospektiven für Führungskräfte-Teams / Management-Zirkel

Führungsteams stehen unter hohem Entscheidungs- und Erwartungsdruck und müssen komplexe Interessen ausbalancieren: operative Anforderungen, strategische Prioritäten, der Einsatz von Ressourcen, politische Spannungen, Stakeholder-Erwartungen. Gerade in diesen Gremien entstehen schnell blinde Flecken, unausgesprochene Konflikte oder Ineffizienzen. Case-Beispiel: Strategiemeetings liefern gute Ideen, doch in der Umsetzung verlieren sich die Verantwortlichkeiten, Bereiche blockieren sich gegenseitig und weisen sich gegenseitig die Schuld zu.

Regelmäßige Retrospektiven helfen …

  • Entscheidungsprozesse transparent zu machen
  • Konflikte zwischen Bereichen und/oder Personen in einem strukturierten Format zu diskutieren, statt unterschwellig eskalieren zu lassen
  • Führungslinien und Verantwortlichkeiten zu optimieren
  • das Wir-Gefühl zu stärken: Gerade in Unternehmen, in denen Hierarchien historisch gewachsen sind, können Retrospektiven eine Kultur der gemeinsamen Verantwortung für den Unternehmenserfolg fördern – statt Machtspielen und Revierverteidigung.

Retrospektiven in Change-Projekten und Transformationen

Veränderung erzeugt Unsicherheit. Retrospektiven schaffen Räume, um diese Unsicherheit produktiv zu machen.

Regelmäßige Retrospektiven helfen …

  • Widerstände früh zu erkennen und das Commitment zu fördern: Retrospektiven machen Sorgen, Missverständnisse oder Blockaden sichtbar, bevor sie die Veränderung ernsthaft gefährden. Rückmeldungen werden ernst genommen und durch die klare Zuteilung von Aufgaben und Next Steps werden Betroffene zu Beteiligten.
  • Kommunikations- und Informationslücken zu schließen: In Retrospektiven zeigt sich, wo Botschaften nicht ankommen, unklar formuliert wurden oder unterschiedliche Interpretationen zulassen.
  • Veränderungsschritte iterativ anzupassen: Change wird nicht als starres Maßnahmenpaket, sondern als lernender Prozess mit kurzen Feedbackschleifen verstanden. Was funktioniert und was nicht? Retrospektiven machen Fortschritte ebenso transparent wie Schwachstellen und Sackgassen.
  • Energie und Stimmung zu monitoren: Retrospektiven geben Hinweise auf Belastungsspitzen oder Motivationslöcher, so dass frühzeitig Gegenmaßnahmen ergriffen werden können.

Was macht eine gute Retrospektiven aus?

Damit eine Retro ihre Wirkung entfalten kann, braucht es passende Rahmenbedingungen:

  • Psychologische Sicherheit – es geht nicht um Schuldzuweisungen! Wichtig ist eine offene, angstfreie, entspannte Atmosphäre, in der alle Teammitglieder zu Wort kommen.
  • Gute Moderation – idealerweise neutral (Agile Coach, Facilitator), unterstützt durch Visualisierungshilfen (Moderationswände, Karten) und zur jeweiligen Gruppe passende Methoden (z.B. 4L, Start–Stop–Continue, Mad/Sad/Glad …) Positiv sind letztendlich alle Ideen, die dazu beitragen, den Austausch und die Kommunikation fördern. Tipp: Die Website https://retromat.org/de/ bietet eine Fülle an Ideen!
  • Konkrete Maßnahmen – Retrospektiven dienen nicht dem netten Austausch, sondern am Ende sollen To Dos und Verantwortlichkeiten stehen statt vager Absichtserklärungen.Kontinuität – echte Wirkung entsteht erst nach mehreren Iterationen. Und: Die Regelmäßigkeit gibt den Rahmen, um Ansätze und Ideen zu testen, die Wirkung in kurzen Zyklen zu überprüfen und anzupassen. Wir nennen es “Einfach mal machen, könnte ja gut werden.”
  • Transparenz – Fortschritte durch die umgesetzten Maßnahmen werden sichtbar verfolgt, kommuniziert und reflektiert.

Sie möchten Ihre Retrospektiven weiter optimieren oder dieses agile Tool kennenlernen?

Retrospektiven sind vielseitig einsetzbar, wirkungsstark, niedrigschwellig – und sie können einen wichtigen Beitrag für den Aufbau einer lernenden Organisation leisten. Denn: Je komplexer eine Organisation oder ihr Umfeld wird, desto wichtiger wird die Fähigkeit, regelmäßig innezuhalten, strukturiert zu reflektieren und die Maßnahmen anzupassen.

Unsere Agile Coaches machen Ihre Retrospektiven zum Motor für Verbesserung! Nutzen Sie eine von uns professionell vorbereitete und moderierte Retrospektive, um Erfahrungen planvoll zu sortieren, sich zu orientieren und Prioritäten zu setzen. Oder wir trainieren Ihre Moderatoren, Retrospektiven selbst wirkungsvoll zu gestalten.

Beitrag teilen

Corina Stumhöfer unterstützt die Geschäftsführung bei der Personalentwicklung und beim Aufbau unseres Berater-Pools. Dabei geht es der erfahrenen Scrum Masterin über das Organisatorische hinaus um gelebte Werte, Fürsorge und Motivation.

Beitrag teilen