Retrospektiven sind ein fester (und wichtiger!) Bestandteil der agilen Toolbox. Auch wir setzen sowohl für unser eigenes Team als auch in Kundenprojekten regelmäßig Retrospektiven ein, um einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess zu unterstützen. Deshalb wissen wir: Je größer die Runde wird, desto schwieriger ist die Planung und Durchführung von Retrospektiven.

Nichtsdestotrotz gibt es immer wieder Situationen, in denen der Austausch in einer größeren Runde sinnvoll und hilfreich ist, beispielsweise um über Team- und Abteilungsgrenzen hinweg Einsichten zu einem komplexen Veränderungsprojekt zu gewinnen. Aber wie schafft man es, dass sich auch bei 15, 50 oder 500 Personen jede*r in die Retrospektive einbringen kann? Ob gemeinsam mit anderen Teams, mit Stakeholdern oder externen Projektpartnern, bereichsübergreifend oder vielleicht sogar unternehmensweit: Ich stelle in diesem Blogartikel zwei Retrospektiven-Methoden vor, die sich für große Retrospektiven ab 12 Teilnehmer*innen eignen.

Retrospektiven mit Open Space: der freie Austausch

Das Beste an Konferenzen sind die Kaffeepausen, oder? Ungezwungen, ungeplant und ohne vorgegebenes Ziel entwickeln sich hier häufig mehr inspirierende Ideen als während der Vorträge. Dieses Fazit zog auch Unternehmensberater Harrison Owen in den 80er Jahren nach einer wenig attraktiven Konferenz und überdachte das Konzept „Großgruppen-Meeting“ grundsätzlich. Das Ergebnis war 1992 die erste Konferenz nach dem Modell der „Open Space Technology“, heute meist kurz Open Space genannt. Eine Konferenz, die sozusagen eine einzige große Kaffeepause ist.

Open Space kurz zusammengefasst

Open Space ist ein offenes Meeting-Format, bei dem die Teilnehmer*innen ihre Wunschthemen in der Großgruppe vorstellen und dann in kleinen Gruppen bearbeiten. Grundsätzlich gibt es keine vorab festgelegte Agenda oder Referent*innen. Zu Beginn eines Open Spaces steht lediglich ein Leitthema, die Teilnehmer*innen bestimmen den Ablauf und die genauen Inhalte selbst. Es werden auch keine bestimmten Ergebnisse erwartet.

Grundsätze für das Open Space Format

  • „Es kommen immer die richtigen Leute!“ Egal wer da ist und wie viele Teilnehmer*innen es sind, es sind die Richtigen. Jede*r ist wichtig und nimmt aus intrinsischer Motivation teil.
  • „Es beginnt, wenn die Zeit reif ist.“ Es ist viel wichtiger, dass es sich richtig anfühlt und dass die Energie spürbar ist, als pünktlich anzufangen.
  • Es ist vorbei, wenn es vorbei ist.“ Wenn es nichts mehr zu bereden gibt oder die Energie für das Thema aufgebraucht ist, ist es zu Ende.
  • „Was auch immer geschieht, es ist das Einzige, was geschehen konnte.“ Ungeplantes und Unerwartetes ist oft kreativ und nützlich und ermöglicht einen neuen Blickwinkel auf das Thema.

Es gilt das „Gesetz der zwei Füße“: Open Space ist Ausdruck von Freiheit und Selbstverantwortung. Die Teilnehmer*innen bleiben nur solange bei einer Gruppe, wie sie das Gefühl haben, dass sie dort etwas beitragen oder mitnehmen können. Jede*r kann zu jeder Zeit seine Session verlassen und sich eine neue Session suchen. Der Wechsel zwischen den Gruppen ist erlaubt bzw. sogar erwünscht.

Ablauf von Open Space Meetings

  • Begrüßung und Einführung: Erklärung des Open-Space-Formats und Vorstellung des Leitthemas
  • Themen sammeln: Alle Teilnehmer*innen können als „Themenpaten“ Themen einreichen, die z.B. an einer Tafel angepinnt werden.
  • Marktplatz: Die Sessions werden geplant (wann und wo werden welche Themen besprochen) und die Teilnehmer*innen ordnen sich den Gruppen/Sessions zu, in denen sie mitarbeiten möchten. Denken Sie an ausreichend Papier, Stifte und sonstige Materialien für Gruppenarbeit, z.B. Flipcharts, Whiteboards, ggf. Notebook und Beamer!
  • Sessions: In der Gruppenarbeitsphase arbeiten die Teilnehmer*innen selbstorganisiert nach den oben erwähnten Open-Space-Grundsätzen. Die Themenpaten dokumentieren die Ergebnisse und stellen sie den anderen Teilnehmer*innen transparent zur Verfügung, beispielsweise an einer Stellwand. Üblicherweise gibt es mehrere Session-Runden hintereinander, so dass eine größere Vielfalt an Themen besprochen werden kann und sich die Teilnehmer*innen in verschiedenen Sessions einbringen können.
  • Zusammenführen der Ergebnisse und Abschluss

Grundsätzlich kann ein Open Space zwei Stunden dauern oder sich über mehrere Tage erstrecken. Die Länge der einzelnen Phasen unterscheidet sich je nach Anzahl der Teilnehmer*innen und der geplanten Gesamtdauer – ideal sind Sessions mit rund 20 bis 30 Minuten. Handelt es sich um eine komplexe Frage, die in diesem Zeitraum nicht diskutiert werden kann, sollte die Frage wenn möglich weiter heruntergebrochen werden.

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Tipp

Insbesondere für Gruppen, die noch nicht mit dem Open-Space-Format vertraut sind, ist eine Moderation empfehlenswert (Eröffnung zu Beginn und Zusammenfassung der Ergebnisse zum Abschluss des Open Space).
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Open Space für Retrospektiven

Das Open-Space-Format eignet sich nach meiner Erfahrung sehr gut für große Retrospektiven. Allerdings muss der freie Austausch erst erlernt werden, auch dass jedes (!) Thema angesprochen werden darf. Hat die Gruppe noch nie mit Open Space gearbeitet, kann die Vorgabe eines etwas enger gefassten Leitthemas hilfreich sein, beispielsweise „Teamgrenzen überwinden“ oder „Qualitätssicherung“.

Darüber hinaus ist es für Retrospektiven eine sinnvolle Adaption, dass die Sessions mit dem Ziel arbeiten, konkrete Handlungsempfehlungen oder Maßnahmen zu generieren, die das Team/Projekt/Unternehmen voranbringen. Am Ende der Veranstaltung können für solche Aktionspunkte auch direkt Unterstützer*innen gesucht werden, die den Ansatz weiterverfolgen.

Retrospektiven mit World Café: die zielgerichtete Lösungsfindung

Auch das World Café macht sich die kommunikationsanregende, ungezwungene Café-Atmosphäre zunutze. Entstanden war der Ansatz 1995 aus einem Zufall heraus: Die Consultants Juanita Brown und David Isaacs hatten eine größere Gästegruppe zu einem strategischen Managementmeeting eingeladen und wollten die Teilnehmer*innen im Freien empfangen. Da es zu regnen begann, bauten sie spontan im Wohnzimmer kleine Stehtische auf und griffen mangels passender Tischdecken auf Flipchart-Papier zurück. Ohne das Meeting offiziell zu eröffnen oder zu steuern, bildeten sich wechselnde Grüppchen an den Tischen, die Gäste diskutierten angeregt und begannen schließlich auch auf den Papiertischdecken zu scribbeln. Begeistert von den Ergebnissen des Tages machten Juanita Brown und David Isaacs die Methode über ihre Community weltweit bekannt – heute ist das World Café eine feste Größe in der Großgruppen-Moderation.

World Café kurz zusammengefasst

Die Grundidee ist, dass kleine Gruppen in einem kaffeehausähnlichen Ambiente ein Thema vertiefend diskutieren und durch eine Abfolge an vorgegebenen Fragestellungen betrachten. Um den Austausch anzuregen und Ideen zu verknüpfen, wechseln die Teilnehmer*innen mehrmals die Tische, so dass sich die Gruppenkonstellationen verändern.

Die World Café Etikette

In Anlehnung an die Regeln der World-Café-Community gilt:

  • Lenken Sie Ihren Fokus auf das, was Ihnen wichtig ist!
  • Tragen Sie eigene Ansichten bei!
  • Hören Sie genau hin, um wirklich zu verstehen!
  • Verbinden Sie Ihre Ideen miteinander!
  • Machen Sie sich auf die Suche nach neuen Erkenntnissen!
  • Spielen, kritzeln und malen Sie!
  • Haben Sie Spaß!

Ablauf von World Café Meetings

Für ein World Café wird ein ausreichend großer Raum benötigt, der mit Sitzgruppen für jeweils 4 bis 5 Personen ausgestattet und caféhausähnlich eingedeckt wird. Die Tische sind mit einer beschreibbaren Papier-Tischdecke ausgestattet (alternativ liegen große Papierbögen aus), außerdem sollten unterschiedliche Stifte und Material zur kreativen Gestaltung einer visuellen „Mind Map“ zur Verfügung stehen, ebenso Getränke und kleine Snacks.

  • Begrüßung und Einführung: Ein Moderator oder eine Moderatorin klärt alle Teilnehmer*innen über das World-Café-Format auf, stellt den Ablauf und das zu diskutierende Thema vor.
  • Erste Diskussionsrunde (15 bis 20 Minuten): Die Teilnehmer*innen verteilen sich auf die Tische – möglichst nicht in Gruppen, die im Alltag eng zusammenarbeiten. An jedem Tisch gibt es Gastgeber*innen, die das Gespräch moderieren und die für alle Tische identische erste Frage vorstellen. Die Tischgruppe erörtert die Frage und dokumentiert zentrale Gedanken auf der Papiertischdecke. Die Gastgeber*innen achten darauf, dass alle am Tisch zu Wort kommen und dass sich jede*r kurz fasst.
  • Tischwechsel: Nach Ende der Bearbeitungszeit verteilen sich die Teilnehmer*innen frei auf andere Tische, so dass sich neue Gruppen bilden. Die Gastgeber*innen bleiben an ihren Tischen und fassen für die neue Gruppe kurz die Ergebnisse der Vorgruppe zusammen.
  • Zweite Diskussionsrunde (15 bis 20 Minuten): Die neue Gruppe diskutiert auf Basis der Vorergebnisse die nächste vorgegebene Frage.
  • Wiederholungen: Tischwechsel und Diskussion wiederholen sich für die restliche Dauer des World Cafès. Die gestellte Frage kann entweder über mehrere Runden gleichbleiben (um in unterschiedlichen Konstellationen diskutiert zu werden) oder es kann eine aufeinander aufbauende Fragenfolge eingesetzt werden. Auf der Tischdecke entsteht nach und nach eine „visuelle Landkarte“ der Gespräche.
  • Präsentation der Ergebnisse im Plenum: Zum Abschluss werden die Tischdecken ausgestellt („World Gallery“) und die Teilnehmer*innen können wie durch eine Vernissage wandern.

Tipp

Die Tischgruppen können auch auf mehrere Räume verteilt sein – diese sollten aber nah beieinander liegen, um einen zügigen Wechsel zwischen den Runden zu ermöglichen. Falls nicht ausreichend Tische und Stühle zur Verfügung stehen, können alternativ auch Stehtische oder nur Flipcharts verwendet werden.

World Café für Retrospektiven

Um das World Café für Retrospektiven einzusetzen, kann der Ablauf leicht modifiziert werden. Da es bei Retrospektiven wichtig ist, auf aktuell wichtige Fragen und Probleme der Teilnehmer*innen einzugehen, können beispielsweise zu Beginn gemeinsam Themen gesammelt und priorisiert werden. Sollen im Rahmen des World Cafés mehrere Themen besprochen werden, können diese auf unterschiedliche Tische verteilt werden, so dass es je Tisch ein eigenes Thema gibt. In diesem Fall sollte es so viele Runden geben wie es Tische gibt, damit jede*r die Chance hat, sich bei allen Themen einzubringen.

Um Verbindlichkeit über die Retrospektive hinaus zu schaffen, sollten Personen gesucht werden, die wichtige Themen oder Ergebnisse weiterverfolgen. Hier gilt wie bei kleinen Retrospektiven auch: Lieber auf wenige Themen fokussieren als sich bei zu vielen Themen zu verzetteln.

Der Mehrwert von Open Space und World Café

Beide Methoden eignen sich hervorragend, um viele Personen gleichzeitig an einer Diskussion zu beteiligen und so die Kreativität und die Energie großer Gruppen zu bündeln. Menschen, die im Alltag nicht direkt miteinander arbeiten oder kommunizieren, lernen sich besser kennen und vernetzen sich. Sowohl Open Space als auch World Café bieten einen organisatorischen Rahmen für einen hierarchie- und bereichsübergreifenden Dialog. Völlig zufällige Personen-Konstellationen tauschen sich interessenbezogen aus – was zu neuen Perspektiven, überraschenden Ideen und ungewöhnlichen Lösungsansätzen führen kann. Ganz im Sinne einer meiner innersten Überzeugungen: „People support what they build.“

Sie möchten auch das Potenzial einer großen Gruppe nutzen, um Probleme zu lösen, neue Ideen zu generieren und gemeinsam zu lernen? Gerne übernehmen wir die Organisation und Moderation von Großgruppen-Retrospektiven!

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Chris Krumm war als Scrum Master und Agile Coach bei Teamprove tätig.

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